82-Die Sache Jesu?

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Raquel Wir setzen die Analyse der politischen Situation zurzeit Jesu fort, und zwar mit Jesus Christus selbst. Viele Höre- rinnen und Hörer rufen bei Emisoras Latinas an, einige eher besorgt, andere wirklich verärgert und aufgeregt.
Jesus Verärgert? Warum, Raquel?
Raquel Weil Sie in den Interviews über Politik gesprochen haben.
Und die Leute meinen, Sie sollten sich mehr um die religiö-
sen Dinge kümmern, besonders in diesen Tagen. Wir be-
finden uns schließlich in der Karwoche.
Jesus Was sind die religiösen Dinge?
Raquel Nun ja, ich denke, die Anruferinnen und Anrufer meinen Gebete, Sakramente, Gottesdienste … in einem Wort, die heiligen Dinge.
Jesus Ich glaube, das Heiligste ist das Leben, Raquel. Gott kann sich nicht die Augen zuhalten, wenn er sieht, wie seine Kinder hungern. Ich konnte auch nicht ruhig bleiben, als ich die Ungerechtigkeiten in meinem Land sah.
Raquel Das heißt: sich in die Politik einmischen. Und weil Sie sich einmischten, haben sie sich viele Feinde gemacht.
Jesus Viele. Die Großen hassten mich. Die Unteren, die Gede- mütigten, die Frauen verstanden.
Raquel Was verstanden sie?
Jesus Dass das Reich Gottes gekommen ist. Deshalb schlossen sich Tag für Tag mehr Leute unserer Bewegung an.
Raquel Kommen wir noch einmal zu den Feinden zurück. Sie sind doch ein Mann des Friedens – und hatten so viele Feinde?
Jesus Wer für die Gerechtigkeit kämpft, Raquel, der wird immer Feinde haben. Wenn jemand keine Feinde hat, dann liegt das daran, dass er sich nicht einsetzt.
Raquel Aber Sie haben gesagt: Liebt eure Feinde.
Jesus Ja, ich sagte, dass wir sie lieben sollen, aber nicht, dass man keine Feinde haben darf.
Raquel Ihr berühmter Satz, dass man seine Feinde lieben soll, ist also richtig überliefert, oder wurde er auch abgeschwächt?

Jesus Nein, das habe ich so gesagt. Und es ist keine sanfte Aus- sage.
Raquel Und was wollten Sie damit sagen?
Jesus Die Feinde zu lieben bedeutet, nicht in die Falle des Hasses zu geraten, nicht die Gewalt der anderen nachzuahmen. Wer gegen den Leviathan kämpft, kann diesem Monster sehr ähnlich werden.
Raquel Sie haben sogar empfohlen, die andere Wange hinzuhalten.
Ist das Schwäche, Feigheit?
Jesus Man muss etwas von einer Taube und etwas von einer Schlange haben. Es gibt für alles eine Zeit: Eine Zeit, Stei- ne zu werfen und eine andere, sie einzusammeln. Den Händlern des Tempels habe ich keine Wange hingehalten, die habe ich mit Peitschenhieben vertrieben.
Raquel Ich komme auf meine Frage zurück: Wieso haben Sie sich mit Ihren Überzeugungen in einer so kritischen Situation, in der Ihr Land steckte, nicht für den bewaffneten Kampf entschieden?
Jesus Die Zeloten haben versucht, mich zu überzeugen. Sie woll- ten die Ankunft des Reiches Gottes beschleunigen und mit den Waffen herbeizwingen. Aber Gewalt erzeugt Gewalt. Jeder Aufstand der Zeloten endete in einem neuen Blut- bad.
Raquel Die Geschichte hat Ihnen Recht gegeben, denn bald nach Ihrem Tod, im Jahr 70, haben die Zeloten sich erhoben und Kaiser Titus ließ daraufhin Jerusalem zerstören.
Jesus Ich dachte, das Reich Gottes müsste auf einem anderen Weg kommen. Wie ich schon sagte, Raquel, für mich war es das Wichtigste, den Menschen Augen und Ohren zu öffnen. In unserer Bewegung wollten wir die Armen zu- sammenführen, uns stark fühlen und überzeugt sein, dass wir etwas ändern könnten.
Raquel Sich organisieren? In einer Volksorganisation?
Jesus Ja, genau. Die Gemeinschaft sollte von unten wachsen, wie die Bäume. Ein Volk ohne Besitzer oder Herrscher. Eine neue Welt. Eine andere Welt.
Raquel Haben Sie ein langfristigeres Projekt im Sinn gehabt?

Jesus Ich hatte es eilig … Ich wollte das Reich Gottes. Sofort.
Und es kam nicht.
Raquel Viele sind gestorben, genau wie Sie, indem sie gekämpft haben für etwas, das nie gekommen ist. Sind Sie geschei- tert?
Jesus Nein. Diejenigen, die im Kampf für Gerechtigkeit gefallen sind, wird Gott unter den Toten aufrichten. Im Buch des Lebens sind alle ihre Namen aufgeschrieben. Meiner auch.
Raquel Aus Jerusalem und für Emisoras Latinas: Raquel Pérez.