85-Haben die Juden Jesus getötet?
Raquel Hier ist wieder Emisoras Latinas. Wir kommen gerade aus dem Holocaustmuseum in Jerusalem. Bei uns ist Jesus Christus, unser Interviewpartner.
Jesus Welch Leiden, Raquel, wie viel Tod … Ich habe noch nicht verstanden, was wir da drinnen gesehen haben.
Raquel Das ist eine sehr lange Geschichte … und sie beginnt mit Ihnen.
Jesus Mit mir?
Raquel Sagen wir es so, Jesus Christus: Die Juden wurden verfolgt und getötet, weil sie zuerst Sie getötet haben.
Jesus Ich verstehe immer noch nicht, Raquel.
Raquel Sie haben uns schon erklärt, dass Gott Ihren Tod nicht wollte. Aber es besteht kein Zweifel, dass Sie getötet wur- den. Und das haben die Juden getan. Ist es nicht so?
Jesus Nein, Raquel. Die Verantwortlichen für meinen Tod waren die Römer. Pontius Pilatus. Er bestätigte das Urteil.
Raquel Aber angespornt von den Juden.
Jesus Pilatus hatte seinen eigenen Ansporn. Er war ein erbar- mungsloser Mann.
Raquel Aber man sagt, dass er Zweifel hatte, als er das Urteil bes- tätigen sollte, und dass die Juden ihn bedrängt hätten … und dass er sich dann die Hände in Unschuld wusch.
Jesus Kaiphas, der Hohepriester, und sein Schwiegervater Annas wollten mich beseitigen, aber der Verantwortliche war Pon- tius Pilatus.
Raquel Nein, ich meine das Volk, die Leute. Diejenigen, die am Palmsonntag applaudierten und am Karfreitag geschrien haben. In der entscheidenden Stunde ließen sie Sie allein. Ihr Volk, das jüdische Volk, war es, das den Tod verlangt hat: „Kreuzigt ihn, sein Blut komme über uns und über un- sere Kinder“.
Jesus Wo nimmst du das denn her, Raquel? Raquel Aus Ihrer Biographie, aus den Evangelien.
Jesus Nein, so war es nicht. Als das Volk erfuhr, dass ich gefan- gen genommen war, gingen viele auf die Straße und ver- langten meine Freilassung. Ich sah und hörte sie.
Raquel Vergessen Sie nicht Barrabas?
Jesus Wie könnte ich ihn vergessen. Er war ein berühmter Zelo- tenführer.
Raquel Und war es nicht das jüdische Volk, das die Begnadigung von Barrabas verlangte und schreiend forderte, dass Sie ge- kreuzigt werden sollten?
Jesus Und meinst du nicht, dass Kaiphas Leute gekauft, Leute rekrutiert hat, um zugunsten von Barrabas zu schreien?
Raquel Ich verstehe gar nichts mehr. Von Kindheit an wurde uns erzählt, dass die Juden Christus ermordet haben … Wir ha- ben einen Anrufer in der Leitung … hallo?
Finkelstein Hier spricht Israel Finkelstein18. Ich bin Archäologe und Geschichtswissenschaftler. Ich bin Jude und ich höre den Juden Jesus eine entscheidende Wahrheit sagen. Es war nicht das jüdische Volk, das Jesus tötete, sondern es waren die religiösen Autoritäten. Und dann waren es die römi- schen Herrscher, die in der Welt die Lüge verbreiteten, dass die Juden Christus getötet hätten. Und weil sich die römischen Herrscher dann zum Christentum „bekehrten“, wuschen sie angesichts des Verbrechens genau wie Pilatus ihre Hände in Unschuld.
Raquel Und wie ist zu erklären, dass diese Lüge so lange, bis auf den heutigen Tag, wirksam sein konnte?
Finkelstein Die Samen dieser Lüge wurden von den Autoritäten der christlichen Kirche, begünstigt durch das Römische Reich, gesät und gepflegt. Sie predigten und lehrten es mehr als tausend Jahre lang. Sie säten Hass gegen die Juden. Ihr Volk, Jesus Christus, hat alle Arten von Ungerechtigkeit er- litten wegen dieser Verleumdung. Sie irrten umher, wurden in Ghettos eingesperrt und – wie Sie es im Museum gese- hen haben – millionenfach in Gaskammern vernichtet. Ermordet, weil sie Juden waren.
Raquel Aber es gab doch sicher auch noch andere Gründe für diesen Horror …
Finkelstein Ideologien haben immer auch ökonomische und politische Gründe.
Jesus Aber sage mir, mein Freund, hier in meinem Land, in die- sen Tagen, habe ich gesehen, dass mein Volk Auge um Au- ge zurückzahlt. Es hat vorher gelitten und nun lässt es an- dere leiden.
Finkelstein Es freut mich, auch dies vom Juden Jesus zu hören. Ja, Jesus Christus, unsere Landsleute demütigen die Palästi- nenser, das jüdische Volk verachtet die arabischen Völker. Sie haben Sie, Jesus Christus, nicht getötet, aber sie haben getötet und töten weiter, und zwar aus Arroganz zu glau- ben, ein überlegenes Volk zu sein.
Jesus Es ist dieselbe Arroganz, die ich auch zu meiner Zeit sah. Raquel Vielen Dank an den Archäologen Finkelstein.
Jesus Gehen wir, Raquel. Gehen wir noch einmal hinein. Raquel Möchten Sie noch einmal ins Museum gehen?
Jesus Ja, jetzt habe ich verstanden. Und angesichts der vielen Toten meines Volkes möchte ich beten, dass unsere Völker verstehen, dass es keine auserwählte Rasse gibt, dass alle Völker vor Gott gleich sind.
Raquel Aus dem Holocaustmuseum in Jerusalem: Raquel Pérez, Emisoras Latinas.